Gründungsimpuls
Im Jahr 1925 pachtete der ursprünglich aus Ostwestfalen stammende Psychiater Dr. Friedrich Husemann (1887-1959) auf dem Riedberg in Günterstal bei Freiburg im Breisgau ein Landhaus inmitten einer Gartenanlage, das etwas umgebaut wurde und als „Sanatorium Riedberg“ als die erste Keimzelle der heutigen Friedrich-Husemann-Klinik betrachtet werden kann.
Die dortigen baulichen Verhältnisse wurden rasch zunehmend beengt und ungeeigneter; 1928 konnte Husemann das Gut Wiesneck in Buchenbach bei Freiburg im Breisgau erwerben und dort einen Neubau bauen, der 1930 als „Sanatorium Wiesneck“ eröffnet wurde. Nach seinem Tod 1959 wurde die Klinik in „Friedrich-Husemann-Klinik“ umbenannt.
Im Laufe der Jahre kamen zum ersten Klinikgebäude (Johanneshaus), in dem heute Verwaltung und Klinikleitung beheimatet sind, mehrere Neubauten sowie Bauten für Versorgung und Therapieräume hinzu. Heute befinden sich die Patientenzimmer auf insgesamt 6 Stationen im Lukashaus sowie im 2020 eröffneten neuen Michaelhaus. Im Michaelhaus befinden sich auch die geschützte psychiatrische Akutstation und die Psychiatrische Institutsambulanz, die mit der Übernahme der regionalen psychiatrischen Akutversorgung für einen Teil des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald in Betrieb genommen wurden.
Friedrich Husemann war schon während seines Medizinstudiums deutlich geworden, dass die gängigen Theorien zu psychischen Erkrankungen auf einem einseitigen und reduktionistischen Menschenbild basierten. Bei seiner Suche nach neuen erkenntnistheoretischen und therapeutischen Ansätzen stieß er auf die anthroposophisch erweiterte Medizin, die die Ärztin Dr. Ita Wegman (1876-1943) in Zusammenarbeit mit Rudolf Steiner (1861-1925) in den frühen 1920er Jahren erstmals konzipiert hatte. Friedrich Husemann hatte selbst noch Kontakt zu Steiner und Wegman und lernte so Prinzipien und Inhalte der anthroposophisch erweiterten Medizin und Menschenkunde kennen. Er entwickelte daraus integrativ erweiterte psychiatrisch-psychotherapeutische Krankheits- und Therapiemodelle, die seit der Gründung der Friedrich-Husemann-Klinik ergänzend zu den jeweils aktuellen Behandlungsprinzipien der psychiatrischen Fachgesellschaften angewendet werden. Damit ist die Friedrich-Husemann-Klinik das weltweit erste und älteste Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie, in dem anthroposophisch erweiterte Therapieformen angewendet werden.
Erkenntnistheoretische Aspekte
Friedrich Husemann stellte im ersten Band seines Standardwerks „Das Bild des Menschen als Grundlage der Heilkunst“[1] wesentliche erkenntnistheoretische Aspekte für die Notwendigkeit einer Erweiterung eines einseitig biologistisch-reduktionistischen medizinischen Menschenbildes dar, die er zunächst unabhängig von einem bestimmten medizinischen Fachgebiet erörterte.
Die fachspezifischen Grundlagen einer anthroposophisch erweiterten Psychiatrie und Psychotherapie wurden dann im dritten Band dieses Werkes[2] von einem seiner Nachfolger, dem Psychiater Dr. Rudolf Treichler (1909-1994), systematisch zusammengefasst; Friedrich Husemann selbst ist nicht mehr dazu gekommen, ein von ihm geplantes grundlegendes Buch zu einer anthroposophisch erweiterten Psychiatrie und Psychotherapie zu schreiben.
Basis einer anthroposophisch erweiterten Sichtweise ist ein Menschenbild, das neben den allgemein akzeptierten bio-psycho-sozialen Aspekten psychischer Erkrankungen auch einen individuellen geistigen Wesenskern des Menschen anerkennt. Einen solchen Blickwinkel haben auch andere namhafte Ärzte und Therapeuten wie beispielsweise der psychosomatische Pionier Viktor von Weizsäcker (1886-1957) oder der Begründer der Logotherapie Viktor Frankl (1905-1997) vertreten, die Krankheit immer auch als individuell sinnhafte Entwicklungskrisen (von Weizsäcker: „Die Krankheit des Menschen ist nicht, was sie schien, ein Maschinendefekt. Sie ist nichts als er selber, oder besser: seine Gelegenheit, er selbst zu werden“) oder Psychotherapie als sinn- und wertorientierte Entwicklungschance (Frankl: „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“) verstanden haben.
Einer solchen Erweiterung der Psychotherapie in Richtung eines geistigen Entwicklungspotentials des Individuums auf der einen Seite stellt eine anthroposophisch erweiterte Psychiatrie auf der anderen Seite die Anschauung hinzu, dass psychische Störungen keine isolierten Erkrankungen des Gehirns sind, sondern ihre Grundlage in gestörten funktionellen Organprozessen und damit in der individuellen Konstitution des psychisch Kranken haben. Dieser zuletzt genannte Aspekt bezieht sich vor allem auf die tief im Leiblichen verwurzelten, früher als „endogen“ bezeichneten Störungen und Psychosen.
[1] Zur Anatomie und Physiologie. Weise, Dresden 1941; 11. durchges. A. 2003: Freies Geistesleben, Stuttgart
[2] Zur speziellen Pathologie und Therapie. Freies Geistesleben, Stuttgart 1978; 4. A. 1993)
Anthroposophisch erweiterte therapeutische Ansätze
Grundlage unserer Behandlung ist die Anwendung neuester wissenschaftlich fundierter psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlungsleitlinien gemäß den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).
Rudolf Steiner und Ita Wegman haben großen Wert auf die Feststellung gelegt, dass anthroposophische Erkenntnisse stets als eine Erweiterung und keinesfalls als eine Alternative zu etablierten medizinischen Herangehensweisen zu verstehen sind:
„Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. Und wir haben die Meinung, daß das von uns Gegebene nur derjenige in der ärztlichen Kunst verwenden soll, der im Sinne dieser Prinzipien vollgültig Arzt sein kann. Allein, wir fügen dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu (…)“ (aus: Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. GA 27 (1991), erstmals veröffentlicht 1925), Rudolf-Steiner-Verlag, Basel).
Aus den weiter oben geschilderten erkenntnistheoretischen Ansätzen ergeben sich im Wesentlichen drei grundlegende Ansätze für eine anthroposophisch erweiterte psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung, die ergänzend zur konventionellen pharmakotherapeutischen Behandlung und Psychotherapie zur Anwendung kommen können. Erstens soll das Seelische selbst angeregt und im psychotherapeutischen Entwicklungsprozess begleitet werden durch ein breites Spektrum an Kunst- und Werktherapien (u.a. Musiktherapie, Plastizieren, Malen, Sprachtherapie, Weben, Flechten). Zweitens kann das salutogenetische Potential der individuellen körperlichen Konstitution unterstützt werden durch spezifische potenzierte Arzneimittel (vor allem mineralische Substanzen und Phytotherapeutika), die üblicherweise in niedrigerer Potenz und damit substanzieller als in der konventionellen Homöopathie und häufig auch als Kombinationspräparate gegeben werden. Weitere körperlich-biologische Ansatzpunkte sind äußere Anwendungen in Form von Einreibungen, Kompressen/“Wickeln“, Salbenauflagen und (Teilkörper-)Bädern.
Drittens ist eine therapeutische Grundhaltung wesentlich, die die geistige Individualität des Patienten und seinen individuellen Schicksalsweg anerkennt und wertschätzt. In vielen Fällen kann aus einer solchen Haltung heraus auch die konventionelle störungsfokussierte Psychotherapie erweitert werden im Sinne einer individuellen Sinn- und Wertorientierung und einer Einordnung der psychischen Erkrankung in einen potentiellen biographischen Entwicklungsimpuls.